Brauchen wir eine Digitale Ethik?

Die Meinungskommentare und Feuilletons sind aktuell voll von Forderungen, die eine spezielle digitale Ethik fordern, wie solle man auch sonst mit Phänomenen wie Hate Speech und Fake News umgehen. Diese seien einzudämmen und zu regulieren. Die Forderungen sind menschlich angesichts von etwa in den Selbstmord getriebener Mobbingopfer nachvollziehbar, aber sie sind zu einem guten Teil gefährlich, denn wir benötigen keine neue digitale Ethik. Wir besitzen bereits alle ethischen Maßstäbe und Regularien, wir müssen sie nur auf die Digitalisierung anwenden – und dies ist bislang in erschreckendem Maße kaum geschehen. Daraus entsteht dringender Handlungsbedarf, schließlich ist die Digitalisierung seit der industriellen Revolution die Kraft, die Wirtschaft und Gesellschaft am dramatischsten verändert. Die wichtigsten Handlungsfelder werden im Folgenden kurz dargestellt.


Netzneutralität und Redefreiheit

Das Internet entwickelt sich zum weltweit umfassenden Medium, in dem alle maßgeblichen Diskussionen geführt werden. Die Bedeutung, sowohl qualitativ und vor allen Dingen quantitativ, übertrifft mittlerweile die aller anderen Medien und diese Entwicklung geht mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter. Es ist daher für eine offene und freie Gesellschaft geboten, dass niemand einen privilegierten Zugang zum Internet hat oder seine freie Meinungsäußerung im Internet eingeschränkt wird. Immer wieder wird aus ökonomischen oder anderen Gründen die Aufhebung oder Einschränkung verlangt. Dies ist gefährlich, weil es unsere freien, demokratischen Gesellschaften in ihrer Substanz treffen wird. In Artikel 19 der Erklärung der Menschenrechte sowie im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 wird die Redefreiheit als unveräußerliches Recht garantiert. Und dies bedeutet ein gleiches Recht für jeden, bei dem niemals jemand bevorzugt werden darf. Jenseits der internationalen Gesetze war es der Erste Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung und die sich auf ihn berufenden Gerichtsurteile, die immer das stärkste Bollwerk gegen Angriffe auf die Redefreiheit gebildet haben. Dass aktuell von der Trump-Administration Pläne verfolgt werden, die Netzneutralität einzuschränken, muss als gefährlicher Angriff auf eine der Säulen unserer freiheitlichen Ordnung angesehen werden.

Und Redefreiheit ist auch im Internet außerordentlich weit zu fassen – eine Einschränkung muss sehr gut begründet sein, auch wenn viele Äußerungen im Netz für einen zivilisierten Menschen schwer zu ertragen sind. Es ist eben erlaubt, auch Blödsinn von sich zu geben oder bissige Satire zu veröffentlichen. Dem spontanen Reflex angesichts spektakulärer Fälle ein Hate Speech Gesetz zu verabschieden sollte nicht Folge geleistet werden. Vielmehr sollte man dem Vorschlag von Timothy Garton Ash folgen, zwischen Hassrede und gefährlicher Rede zu differenzieren. Hassrede („Alle X sind Untermenschen“) ist zwar unschön, aber erlaubt, während gefährliche Rede („Y ist ein X. Tötet ihn, er ist jeden Tag um 9 Uhr morgens bei der Adresse ABC) verboten und sanktioniert werden sollte.

Überhaupt besitzen wir in unseren freien Gesellschaften bereits alle notwendigen Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte, allerdings haben wir ein Vollzugsdefizit, insbesondere mit Blick auf die Anonymität vieler Autoren, die eine gefährliche Rede ins Netz stellen. Hier müssen wir dringend neue technologische Prozesse diskutieren, die aber eben nicht die Redefreiheit als unantastbares Gut im Zuge eines Kollateralschadens einschränken. Redefreiheit war, ist und muss der Operationsmodus unserer freien Gesellschaft bleiben. Die Netzneutralität darf daher niemals eingeschränkt werden!


Demokratie und politische Teilhabe

Das Internet als weltweites Leitmedium und Diskussionsforum bestimmt immer mehr auch die politische Diskussion. Seit der Zeit der Aufklärung steht der mündige Bürger (citizen, citoyen), der am politischen und gesellschaftlichen Leben in freier und unabhängiger Weise teilnimmt, im Zentrum unseres demokratischen Prozesses. Ohne diese Teilhabe ist das Konstrukt des Bürgers als Souverän Illusion. Dies bedeutet, dass in unserem digitalen Zeitalter ein Zugang zum Internet und das Wissen um eine souveräne Nutzung der Möglichkeiten eine unabdingbare Voraussetzung für ein Fortbestehen einer umfassenden Demokratie ist. Estland hat dies konsequent umgesetzt und dem Recht auf Internetzugang Verfassungsrang eingeräumt. Diesem Vorbild sollte gefolgt werden. Darüber hinaus leitet sich hieraus ab, dass digitale Bildung und die damit verbundene Medienkompetenz von überragender Bedeutung ist und de-facto zu einem meritorischen Gut wird, dessen Bereitstellung eine prioritäre Pflichtaufgabe des Staates ist. In dieser Hinsicht sind in vielen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, die notwendigen Voraussetzungen nicht geschaffen worden.


Internationalisierung und nationale Gesetzgebung

Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan sprach schon in der 60er Jahren prophetisch von dem „weltweiten Dorf“, das sich gerade entwickelt. Mit dem Internet ist dies nun Realität geworden, mit all seinen schönen Facetten, denn ich kann mit meinen Freunden und Verwandten in fernen Ländern leicht und bequem in Kontakt stehen. Aber auch in seinen unschönen Seiten, wenn beispielsweise die Veröffentlichung islamkritischer Satire in Dänemark (Jyllandsposten) nicht zu Morden in Dänemark selbst, aber so fernen Ländern wie Nigeria oder Pakistan führt.

Darüber hinaus bestimmen zunehmend wenige Unternehmen wie Google, Facebook, Apple und Amazon die Art und Weise, wie sich das Internet weiter entwickelt. Unsere Rechtsprechung und –verfolgung bleibt aber weitgehend in nationaler Verantwortung, bei so einem wichtigen Thema wie Datenschutz in Deutschland sogar auf Länderebene. Wenn wir das Primat des Rechts auch im Internet effektiv durchsetzen wollen brauchen wir zwangsläufig mehr internationale, sanktionsfähige Kooperationen. Entgegen dem aktuellen politischen Trend brauchen wir mehr Europa, mehr transatlantische Kooperation und mehr UNO, wenn wir den Konsequenzen einer Anwendung bestehender ethischer Prinzipien auf die neue digitale Wirklichkeit Folge leisten wollen.


Realität und Digitalisierung

Seit Platons Höhlengleichnis und in der Neuzeit seit dem Streit der französischen Rationalisten mit den britischen Empiristen war die Frage „Was ist Wirklichkeit?“ eine der wichtigsten Fragen der Philosophie. In der letzten Zeit ist es allerdings ruhig geworden. Dies ist falsch, denn die Frage ist wieder höchstaktuell und muss intensiv diskutiert werden. Begriffe wie Augmented Reality oder die von dem einflussreichen Autoren Ray Kurzweill propagierte extreme Umkehrung des Begriffs („Wir werden bald hauptsächlich in einer virtuellen digitalen Welt leben, die ab und zu durch Eindrücke aus der physischen Realität angereichert wird“) verdeutlichen, dass wir hier vor einer ganz neuen Epoche stehen.

Und ganz in der Breite des Netzes bestimmt eine einzelne Firma – Google – zu einem maßgeblichen Teil, was wir finden und was nicht. Natürlich wird die Meinungsvielfalt durch Google erhöht, wenn wir Zeitungen aus der ganzen Welt lesen können, aber der zugrundeliegende Suchalgorhythmus bleibt als Betriebsgeheimnis eine Black Box. Gewiß, lokale Zeitungsmonopole hat es auch früher schon gegeben, daher ist das Phänomen nicht neu, aber wir brauchen staatliche Kontrollorgane nach dem Vorbild der amerikanischen FTC, die Google und andere globale Netzwerke zu Analysen über ihre Suchergebnisse zwingen können.

Die Welt war schon immer voller Fake News, auch wenn dies ein neuer Begriff ist, Verschwörungstheorien und gezielte Desinformation waren schon immer da. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung hat dies jedoch ein neues Ausmaß gewonnen. Hier gilt es die existierenden, vor allen Dingen technologischen Defizite, auf staatlicher Seite zu beheben. Und darüber hinaus lässt ich aus einer Anwendung der Ethik auf die digitale Welt zwingend die Forderung nach einer Renaissance der Aufklärung und des mündigen Bürgers ableiten. Es ist zwingend geboten, den zeitgenössischen Relativismus des poststrukturalistischen und postmodernen Diskurses mit seinem „Anything goes“ sachlich zu bekämpfen und eine neue Ära des Objektivismus einzuläuten.

Kurzum, wir benötigen keine neue digitale Ethik. Wir besitzen schon das gesamte Rüstzeug mit Immanuel Kants kategorischen Imperativ, Karl Poppers Offener Gesellschaft und John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (und natürlicher andere mehr). Wir müssen dies „nur“ auf die neue digitale Welt anwenden – eine gewaltige Aufgabe, die wir bislang kaum angegangen sind.