Digitale Ethik – kritische Bemerkungen

Natürlich wird jetzt viel über "digitale Ethik" gesprochen. Strenggenommen gibt es sie aber gar nicht.

In der Philosophie kann man eine Inflation von Bereichsethiken feststellen. Medizinethik, Sportethik, Technikethik – und jetzt eben "digitale Ethik". Nicht ist ohne Grund, schrieb einmal Gottfried Wilhelm Leibniz und hielt diesen Satz für einen Grundsatz der Philosophie. Folgt man dem, muss auch die Bezeichnung "digitale Ethik" einen Grund haben. Generell gilt, dass Ethik es mit Handlungen zu tun hat, also mit Vorgängen, die willentlich ausgeübt werden und auf ein Ziel, einen Zweck hin orientiert sind. In der Ethik überlegt man zuerst, ob es überhaupt Handlungen gibt; denn wenn es keinen freien Willen gibt und wir biologische Automaten sind, muss man den Begriff Handlung und damit die Ethik begraben. Dann überlegt die Ethik, wie man bei ethischen Problemen eine bestimmte Handlungsweise rechtfertigen kann. Dazu gibt es ganz unterschiedliche Antworten, teils schaut man auf Gründe, die eine Handlung motivieren, teils aber auch auf die Folgen, die eine Handlung hat. Alle diese Überlegungen haben aber eins gemein: Sie sind abstrakt gegenüber konkreten Problemen.

Hier kommen die Bereichsethiken ins Spiel, denn ethische Probleme sind meistens ganz konkret. Aus ganz pragmatischen Gründen haben sich Bereichsethiken gebildet, weil nämlich die konkreten sachlichen Voraussetzungen enorm vielfältig und nur von Experten zu durchschauen und zu überblicken sind. In allen Bereichsethiken geht es immer um Ethik. Die "digitale Ethik" ist daher nicht eine neue Art von Ethik, sondern einfach nur Ethik, allerdings beschränkt auf konkrete Probleme unserer heutigen digitalen Welt.

Noch ein Wort zu den Problemen. Ethische Probleme zeichnen sich dadurch aus, dass man sie nicht – oder zumindest nicht leicht lösen kann. Ethische Probleme sind keine Rechenaufgaben. Sie lassen sich nicht analytisch lösen. Es geht viel um Voreinstellungen, kulturelle Prägungen, Interessen, um unterschiedlich Begründungs- und Argumentationsverfahren. Auch aus diesem Grunde gibt es keine "digitale Ethik", weil sich ethische Probleme nicht digitalisieren lassen.

Man kann leicht vier große Bereiche erkennen, in denen es in der digitalen Welt zu ethischen Problemen kommt: Automatisation, Substitution, Hybridisierung und Öffentlichkeit.

Automatisation gibt es auch ohne Digitalisierung. Mit der Digitalisierung wächst die Automatisation aber in eine ganz andere Dimension. Viele Prozesse, die vor kurzem von Menschen gesteuert wurden, werden jetzt automatisiert. Um das zu veranschaulichen, muss man nur an die Diskussion um das automatisierte Fahren denken. Fahrerlose Autos sollen bald unser Straßenbild beherrschen. Technisch scheinen die allermeisten Probleme bereits gelöst zu sein; einzig die Frage nach Verantwortlichkeiten in ethischem und juristischem Sinn scheinen ungelöst. So kommt es im Straßenverkehr, ob automatsiert oder nicht, immer zu Gefährdungssituationen. Während ein menschlicher Fahrer reflexartig reagiert, also keine willentliche Handlung vorliegt, muss und kann die automatisierte Steuerung des Wagens eine Entscheidung treffen. Oder besser: Die Software des Autos muss so programmiert sein, dass sie die beste Entscheidung trifft. So muss die Steuerung abwägen, ob sie den Fahrer schützt oder etwa die Passanten auf den Gehweg, etwa wenn nur die Kollision mit einem LKW oder ein Ausweichen in eine Passantengruppe möglich ist. Während die menschliche reflexartige Reaktion vielleicht eine juristische, aber keine moralische Aufarbeitung und Bewertung nach sich zieht, ist die Software des selbstfahrenden Autos sehr wohl in der Lage eine Entscheidung zu treffen. Solche Szenarien (Trolley-Problem) werden seit den 50er Jahren in der Ethik immer wieder diskutiert, weil sie anschaulich machen, dass in ethischen Entscheidungen Abwägungen getroffen werden, die dilemmatisch sind. Schaut man sich diese Szene genauer an, so werden die Entscheidungen gar nicht vom Auto getroffen, sondern von Software-Ingenieuren, die eine Prioritätenliste der geschützten Güter festlegen. Es ist zu vermuten, dass die Autohersteller den Schutz des Fahrgastes höher bewerten als das Leben der Passanten. Aber ist das ethisch begründbar?

Über die Substitution menschlicher Arbeitsleistung durch Maschinen wird ebenfalls schon länger diskutiert. Früher ging es um Arbeitsplätze mit schwerer körperlicher Arbeit, hohem Gefährdungsgrad für den Arbeiter und großer Eintönigkeit. Heute diskutieren wir aber auch über Arbeitsplätze die Intelligenz und Wissen verlangen. Lernende Computersysteme können bald vielfältige Arbeiten übernehmen, die bislang ausgebildeten Fachkräften oder gar studierten Mitarbeitern vorbehalten waren. Damit treten moralische Fragen auf den Plan, die die Fabrik von morgen, oder, um das Schlagwort zu benutzen, die Industrie 4.0 betreffen und schon länger auf der politischen Agenda stehen.

Dagegen ist die Hybridisierung des Menschen noch weitgehend Zukunftsmusik. Die Schnittstelle von Mensch und digitaler Welt ist noch weitgehend traditionell, so dass man hier die ethischen Probleme nur erst heraufdämmern sieht. Freilich wäre es eine große Veränderung für das Menschenbild, wenn neuronale Schnittstellen den barrierefreien Austausch von Informationen von Mensch und Computer ermöglichen sollten. Man müsste das Wissen nicht umständlich durch das Studium erwerben, sondern könnte es sich als Chip implantieren oder als Karte in einen neuronalen Port stecken. Man könnte Wissen und Fremdsprachenkenntnisse einfach kaufen – wenn man dafür genug Geld hat. Die Folgen für unser Selbstverständnisse, ja für die Gattung Mensch wären eklatant. Ob eine solche Hybridisierung allerdings überhaupt möglich sein wird, ist nicht kategorisch ausgeschlossen, wird aber von vielen Fachleuten sehr skeptisch gesehen.

Ganz realistisch dagegen sind die Veränderungen der Öffentlichkeit durch die sozialen Medien. Die Veränderung besteht vor allem in der Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit wird dadurch zu einem Tummelplatz von privaten Meinungen. Die Frage ist hier, ob es gelingen kann Privatheit und Öffentlichkeit getrennt zu halten und ob das politisch und ethisch überhaupt zu rechtfertigen ist. Fake news sind insofern kein ethisches Problem, sondern ein politisches. Dass man nicht lügen soll, dass man keine falschen Nachrichten verbreiten soll, ist ein unumstrittenes Gebot und kein ethisches Problem. Das ethische Problem besteht in der Frage, ob und inwieweit der Einzelne sein Selbstbestimmungsrecht ausweiten kann und wie viel staatliche Einschränkungen nötig sind, um die Öffentlichkeit zu schützen. Hier ist ein hochinteressanter Diskussionsprozess im Gang, der in seinem Kern ein ethisches Grundproblem der digitalen und vernetzten Welt behandelt.