„Bingo!“ Wer von digitaler Zukunft redet, kommt an digitaler Ethik nicht vorbei
„Daten“, „Algorithmen“, „Künstliche Intelligenz“: Gäbe es ein Bingo-Spiel für die zentralen Begriffe der Digitalisierung, stünden diese drei Worte ganz oben. Schlechte Karten hätten „Wille“, „Werte“, „Ethik“ – oder noch schlimmer: „Philosophie“. Dabei gibt es gerade kaum etwas Spannenderes, als sich mit Logik und Werten der digitalen Welt auseinanderzusetzen. Wollen wir, dass Algorithmen unser Leben steuern wie bei selbstfahrenden Autos oder einem smarten Zuhause? Wollen wir, dass Fremde unser Leben kennen, weil sie Daten auslesen, die uns als digitale Person definieren? Wieviel Regeln braucht das Netz, was regelt sich besser von selbst?
„Was kann man wissen? Was darf man hoffen? Was soll man tun?“, hat Immanuel Kant die drei Fragen der Philosophie genannt. Ethik bezieht sich auf das dritte, das „Tun“. Eine digitale Ethik ist wichtig, da wir längst Regeln definieren, die unser Handeln lenken – und uns im Ringen um diese Regeln in Widersprüchen verlieren. Ein Beispiel: FDP-Frontmann Christian Lindner sprach im Wahlkampf von „Digital first. Bedenken second“, ein Plädoyer für Marktwirtschaft und gegen Restriktion. Doch die Wirtschaft hält Bedenken hoch, wenn es um Innovationen im Bereich E-Privacy geht, und spricht im Zusammenhang mit der gleichnamigen EU-Verordnung vom Untergang des Internets. Welche Bedenken verhindern Zukunft, welche nicht? Wir können meiner Meinung nach gar nicht genug denken, um die Widersprüche aufzudecken und endlich anzugehen.
Handel ohne Werte
„Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts“, hört man oft, sie werden „Rohstoff“ und „Währung“ genannt. Der Rohstoff müsse gefördert werden, auch in Deutschland, hat die (geschäftsführende) Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt, zum Beispiel 2016 beim Tag der Deutschen Industrie. Und: „Das Prinzip der Datensparsamkeit passt nicht mehr zur heutigen Wertschöpfung.“ Jetzt passen Geld und Rohstoffe sehr wohl zum Sparen, man denke an das Prinzip der Nachhaltigkeit, dem sich die Bundesregierung verpflichtet hat. Aber während sich auf einem Bankkonto Geld sparen lässt, um es nach Bedarf zu investieren, sind Daten die intransparenteste Währung der Welt. Wem gehört sie, was ist ihr Wert und wer verdient daran? Der Handel läuft, ohne die Antwort zu kennen. Marktführer Facebook wirbt sogar damit, „kostenlos“ zu sein – unsichtbarer könnte ein Rohstoff nicht sein.
Ethik sucht nach allgemeinen Regeln, die gutes und schlechtes Handeln definieren. Den aktuellen Umgang mit Daten möchte man nicht als allgemeingültiges Prinzip formulieren. Noch ein Beispiel, noch ein Widerspruch: 84 Prozent der Verbraucher in Deutschland sagen laut einer Studie, dass soziale Netzwerke zu viele Daten sammeln – trotzdem nutzen sie sie. Die Wissenschaft nennt das „Privacy Paradoxon“: Auch wenn jemand betont, wie wichtig ihm Privatheit sei, opfert er sie, sobald der Gegenwert stimmt, in Form eines Services zum Beispiel, der sein Leben leichter macht. Jetzt kann man als Unternehmen trotzdem profitieren, Paradoxon hin oder her. Sonderlich nachhaltig ist das nicht, ganz zu schweigen vom ethischen Aspekt.
Aus Bequemlichkeit die Seele verschenkt
Vielen Nutzern ist unklar, was mit ihren Daten passiert. Und irgendwie ist es ihnen egal. Die meisten sagen, sie hätten nichts zu verbergen. Doch darum geht es bei „Privacy“ nicht. Es geht nicht um Geheimnisse, sondern um ein Grundvertrauen. Sehr schön zeigt das ein Experiment des dänischen Verbraucherrats: In einer Bäckerei fragten Verkäuferinnen ihre Kunden beiläufig, wo sie gestern um 20 Uhr waren, wie ihre Telefonnummer lautet und die ihrer Mutter. Die Kunden fanden das unangebracht – offenbar nur in der Offline-Welt. Online geben sie solche Informationen längst preis, ohne zu wissen, was und an wen. Ein englischer Onlinespiele-Anbieter hat die Gleichgültigkeit getestet und in seine Terms & Conditions vorrübergehend einen Passus gepackt, mit dem der Nutzer ihm bei Zustimmung seine Seele schenkt. Mephisto lässt grüßen. Wer dem Seelenhandel widersprochen hätte (ein Klick, Opt-out), hätte als Belohnung fünf Pfund kassiert. 88 Prozent akzeptierten die AGB ungeprüft.
Wenn in der digitalen Welt von „Datensouveränität“ die Rede ist, muss man diskutieren, wie realitätsnah dieses Konzept ist und wie man Souveränität stärkt. Freiheit und Verantwortung sind Grundpfeiler der Ethik, jeder Handelnde muss sich der Verantwortung stellen – auch jeder Nutzer. Wenn man zum Beispiel Gesichter von Freunden markiert, weil es dafür mehr Aufmerksamkeit gibt, muss man sehen, dass es die Freiheit der Freunde beschränkt, zum Beispiel digital nicht vermessen zu sein. Das gleiche betrifft Fotos, auch der eigenen Kinder. Ohne Aufklärung und Bildung funktioniert es nicht. Und im Digitalen gibt es noch viel Nachholbedarf.
Mangelnder Mut
Es gibt erste Ansätze, bei denen Nutzer ihre Daten verwalten und Firmen zur Verfügung stellen. Einer heißt „Vendor Relationship Management“ (VRM), in Abgrenzung zu CRM. Wie sich mit VRM Geld verdienen lässt, wie es leicht zu nutzen ist und wie es Geschäftsmodelle unterstützt, all das wird gerade diskutiert. Fest steht, dass sich die Debatte lohnt, zumal das bisherige Targeting Tücken hat: Mehr als jeder Zweite lehnt personalisierte Werbung ab. Nachvollziehbar, wenn einen im Netz Werbung verfolgt, weil man ein Produkt bereits gekauft hat (das man nicht mehr braucht) oder man vermeintlich vertraulich mit einem Freund gechattet hat. Auch die Wirtschaft kann profitieren, Verbraucher nicht als „Zielscheibe“ zu definieren, sondern mit ihnen zu kooperieren: Die Konsumlaune in Deutschland boomt. Nutzer investieren Stunden, um Produkte und Dienstleistungen zu finden. Ein gutes Daten- und Angebotsmanagement hilft.
Der digitale Markt ist in einer Schieflage, angefangen bei der Währung, die keine ist. Es ist die Stärke der Philosophie ein kohärentes System zu formulieren, ohne logische Brüche. Im Zentrum der digitalen Welt steht Ethik, „Tun“, weil online fast alles Handlung ist. Sich mit digitaler Ethik auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, das Geschäftsmodell zu ruinieren, im Gegenteil: Es kann sich für Unternehmen lohnen. Statt Diskussionen als „Bedenken“ wegzuwischen, sollte man sie schätzen und darauf aufbauen. Der Europaabgeordnete Axel Voss (EVP) hat kürzlich gesagt: „Mangelnder Mut ist keine gute Voraussetzung, um eine erfolgreiche digitale Zukunft zu gestalten.“ Eigentlich meinte er damit den Mut, etwas nicht zu regulieren, was die E-Privacy-Verordnung plant. Aber wie wäre es mit mehr Mut, etwas zu Ende zu denken – Werte der digitalen Welt, ihre Logik, Ethik und all die Widersprüche, die es gibt? Das wäre doch wirklich ein Gewinn für die Zukunft, von dem jeder profitiert.