Sabotage des Schicksals
Krankenversicherung im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Selbstoptimierung
Der allgemeine Trend zur Selbstoptimierung wird verstärkt durch neue technologische Möglichkeiten. Damit erhöht sich das Spannungsverhältnis zwischen Eigen- und Mitverantwortung. Das Solidarprinzip muss sich neu begründen, ist aber unhintergehbar.
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist mehr als eine bloße Versicherung; sie enthält vielmehr seit ihrer Entstehung erhebliche zusätzliche Ausgleichskomponenten, die über eine reine Risikoversicherung hinausgehen: Neben den eigentlichen „Schadensausgleich“ treten in der GKV zusätzlich Elemente des „Risikoausgleichs“ und des „Sozialen Ausgleichs“ (vgl. Tabelle).
Risikoausgleich und Sozialer Ausgleich nach Carsten G. Ullrich, 2000
Risikoausgleich | Sozialer Ausgleich |
Bedarfsbezogene Leistungsgewährung | Gleicher Zugang zu Leistungen |
Risikoaverse Beiträge | Beiträge nach Leistungsfähigkeit |
Negierung von Risikofaktoren:
| Aspekte der Umverteilung:
|
Die gesellschaftliche Akzeptanz beider Formen des Ausgleichs basiert darauf, dass gesundheitliche und soziale Lebensrisiken (z.B. Arbeitslosigkeit) dem einzelnen nicht zugerechnet werden. „Insofern Krankheit als primär oder grundsätzlich kontingent erlebt wird, kann eine eher hohe Toleranz von Umverteilungen infolge der Risikodisvalenz vermutet werden“ (Ullrich 2000, 43f). Aus der Unvorhersehbarkeit, mit der Krankheit immer wieder Menschen trifft und abrupt aus ihrer Bahn wirft, leiten wir ab, dass Gesundheit ein ebenso zufälliges Geschenk des Schicksals sei. Das gilt auch eingedenk der Tatsache, dass „die implizite Kontingenzunterstellung zu weiten Teilen empirisch nicht mehr haltbar“, also „kontrafaktisch“ ist (ebd. S. 42). Eigentlich wissen wir es nämlich besser: Die Zusammenhänge zwischen Lebensführung und Wohlbefinden, zwischen Tun und Ergehen sind weitgehend bekannt – und je mehr wir über die Entstehung von Krankheiten erfahren, desto überprüfbarer wird die Kausalität, die beides verbindet. Obgleich der Zusammenhang zwischen Verhalten und Gesundheit weiterhin unsicher bleibt, scheint der Phänomenkomplex von Gesundheit und Krankheit aus der Sphäre des blind Schicksalhaften, der Kontingenz dem Bereich des Plan- und Kontrollierbaren näher zu rücken. Angesichts umfassender und um sich greifender Selbstoptimierung verliert die Berufung auf ein günstiges oder schlimmes Los mit Blick auf die eigene gesundheitliche Konstitution zunehmend an Plausibilität. Bezogen auf ihre Gesundheit empfinden die selfgetrackten Fitness-Freaks alles, was an Schicksal auch nur von Ferne erinnern könnte, als Zumutung.
Wie fest stehen die Menschen zur „kontrafaktischen Kontingenzunterstellung“ als einer wesentlichen mentalen Voraussetzung für Solidarität? Eine ganze Reihe sozialer Trends untergräbt gerade dieses kulturelle Fundament der GKV: Die allgemeine Rede von der „Eigenverantwortung“ ebenso wie das zunehmende Wissen um den Verhaltensbezug der großen Volkskrankheiten; das wachsende Interesse zumindest der gebildeten Menschen an gesundheitsbewusster Ernährung, Bewegung und einem gesunden Lebensstil ebenso wie die erhöhte Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit im Hinblick auf die Chancen der Prävention. Und schließlich treibt die Digitalisierung mit den Möglichkeiten von Big Data und prädiktiver Medizin sowie den diversen mobilen Tools zur Selbstoptimierung einen Mentalitätswechsel voran, bei dem am Ende jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich wird. Wie widerstandsfähig ist demgegenüber die auf einem anthropologischen Fehlschluss basierende Kontingenzunterstellung und damit die Solidarbereitschaft im System der GKV?
Carsten G. Ullrich, der die Solidarprinzipien wie beschreiben konzeptualisiert hat, sah deren Gefährdungen schon zu Beginn des Jahrhunderts: „Angesichts des gewachsenen medizinischen Wissens um Risikofaktoren wird die Vorstellung einer prinzipiellen Gleichheit der Bedrohung schließlich zunehmend zu einem normativen Postulat, demzufolge die Kontingenzunterstellung auch dann aufrechtzuerhalten ist, wenn die Annahme einer gleiche Bedrohung empirisch offensichtlich nicht mehr haltbar ist.“ (Ullrich 2000, 41) Die normative Kraft jenes Postulates bleibe auch dann in Geltung, wenn der Rückhalt in der Bevölkerung dahinschmölze. Denn mit der Kontingenzunterstellung fiele auch die „Kollektivierung des Krankheitsrisikos“ und die damit einhergehende „Heterogenisierung der in den Krankenkassen zusammengefaßten Versichertenkollektive“ (ebd. 54f). Eine auf das Verhalten, die Herkunft, den Gesundheitszustand oder die regionale Verortung bezogene Segregation und Rehomogenisierung der Versichertenkollektive mit Blick sowohl auf Beitragserhebung wie die Leistungsgewährung legte nicht nur die Axt an das Solidarprinzip, sondern an die Wurzel jeder modernen Krankenversicherung – sogar der privaten.
Die paradoxe Forderung, die damit an jeden Versicherten ergeht, besteht darin, das unhintergehbare Wissen um die Ursachen von Krankheiten, den präventiven wie kurativen Einfluss von Verhalten und Verhältnissen nicht zu ignorieren, das Bewusstsein jedoch zugleich dagegen abzudichten, sobald die Frage nach der Verantwortung oder Haftung für diese Risiken im Raum steht. Die Erweiterung unserer medizinischen Erkenntnisse, aber auch die technischen Möglichkeiten der Selbstoptimierung erschweren zwar die Aufrechterhaltung dieses normativen Zuschreibungstabus. Gleichwohl wird es sich als stark genug erweisen, eben gerade weil es vernünftig ist, sogar mit der Unvernunft der Anderen solidarisch zu sein.
Literatur
Ullrich, Carsten G. Solidarität im Sozialversicherungsstaat - Die Akzeptanz des Solidarprinzips in der gesetzlichen Krankenkasse. Frankfurt am Main: Campus, 2000.